An overhead view of school books, pens and hands

Produktivität

Es gibt noch so viel zu lernen: Wie Sie Ihr Gehirn austricksen

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Der moderne Geist lässt sich leicht ablenken, weshalb unsere Gedächtnisleistung in den Hintergrund getreten ist. Matthew Jenkin sucht nach neuen Wegen, den Menschen zu ermöglichen, ihr Lernverhalten neu zu definieren und folglich ihre Produktivität zu verbessern.

 

Im Frühjahr 2006 gewann Joshua Foer die Gedächtnis-Meisterschaft in den USA und stellte einen neuen Rekord in der Disziplin «Speedcards» auf, indem er die Reihenfolge von 52 gemischten Karten in einer Minute und 40 Sekunden nennen konnte. Diese sagenhafte geistige Leistung war jedoch nicht diejenige eines Genies. Es waren die Früchte von einem Jahr Training nach einer uralten Lernmethode zum besseren Einprägen von Bildern ins Gedächtnis namens Loci-Methode oder Gedächtnispalast.

Die bekannte Gedächtnisstütze, die schon von den Griechen und Römern angewendet wurde, um lange, komplizierte Reden auswendig zu lernen, kombiniert Visualisierungen unter Nutzung des räumlichen Gedächtnisses – bekannte Informationen über die eigene Umwelt. Die Methode ist nicht nur für Gedächtnissportler. Sie kann jedem dabei helfen, sein Erinnerungsvermögen zu trainieren. Im Rahmen einer Studie von 2017(1) wurde herausgefunden, dass Personen, die keine Gedächtnissportler sind, nach nur sechs Wochen Gedächtnistraining ähnliche Gedächtnisleistungen zeigten.

Die Bedeutung des Lernens

Angefangen beim Halten von wortwörtlich auswendig gelernten Präsentationen bis zum Erlernen einer neuen Fähigkeit. Die Einsatzmöglichkeiten bezüglich des Lernens im Zusammenhang mit dem Arbeitsplatz sind offensichtlich. Warum nutzen wir diese und andere effektive Methoden also nicht bereits, um erfolgreicher zu lernen? Warum ist es notwendig, nach neuen Lernmethoden zu suchen, um in unserem Job produktiver zu sein?

Dies ist laut Experten der Fall, da unsere derzeitigen Lernansätze grundlegende Mängel aufweisen. Die «Lerntypen»-Theorie(2), die bei Lehrern sehr beliebt ist (die Idee, dass einige Menschen visuelle und andere auditive Lerner sind), beispielsweise wurde kürzlich von Wissenschaftlern widerlegt, die behaupten, dass es keinen Beweis dafür gäbe, dass auf jeden Einzelnen zugeschnittener Unterricht das Lernen verbessert.

Die formale Schulbildung tue sich ebenfalls schwer damit, die Menschen auf die Anforderungen der modernen Welt vorzubereiten, behauptet Dr. Tomas Chamorro-Premuzic. Der Wirtschaftspsychologe erklärt, dass der traditionelle, lineare Ansatz der Wissensvermittlung von einer Person an die nächste nicht länger modernen, digital-affinen Lernern, deren Aufmerksamkeitsspanne kürzer ist, entspräche(3).

«Wir müssen uns in Richtung eines erfahrungsorientierten Lernens bewegen», sagt dieser. «Wenn Sie sich den Erfolg von Projekten wie TED ansehen, bei denen ein Mix aus Bildung und Unterhaltung dargeboten wird, dann kann man feststellen, dass die Präsentationen funktionieren, da sie kürzer und prägnanter sind. Es wird jedoch eine Menge Arbeit investiert, um die Kernbotschaft hervorzuheben, indem eine Geschichte erzählt und ein Erlebnis mit den Menschen geteilt wird, an das sie sich später am ehesten erinnern können.»

Lerntiere

Das schnelle Tempo des technologischen und sozialen Wandels in der modernen Welt bedeutet, dass nun ein höherer Bedarf an anpassungsfähigen und lernbereiten Arbeitnehmern besteht und technisches Fachwissen allein nicht mehr ausreicht. Unternehmen wie zum Beispiel Google sagen, dass die wichtigste Eigenschaft, die sie bei neuen Arbeitnehmern suchen, die ist, dass die Person ein «Lerntier» ist(4).

Dank Neuroplastizität(5) – der Fähigkeit des Gehirns, sich selbst sowohl physisch als auch funktionell neu zu organisieren – können Erwachsene ihr tiefverwurzeltes Lernverhalten durch intensive Konzentration, Entschlossenheit und harte Arbeit generalüberholen. Welche praktischen Methoden können moderne Arbeitnehmer also anwenden, um erlerntes Lernverhalten zu überwinden, wenn es darum geht, zu lernen, Schritt zu halten oder zurückgelassen zu werden?

Ein Schuljunge, der über seinen Büchern lernt

Wenn wir die Schule verlassen, haben wir nicht ausgelernt

 

Kulturelle Erwägungen

Zunächst einmal ist es wichtig, herauszufinden, welche Rolle Kultur bei der Art, wie wir lernen, spielt. Während Auswendiglernen vielleicht die beliebteste Methode in ostasiatischen Ländern wie China und Südkorea ist, gibt es Anhaltspunkte dafür, dass diese Methode nicht allein ausschlaggebend für die hohen Punktzahlen der Kinder in internationalen Tests ist.

Eine Studie des Institute of Education(6) zeigt, dass Kinder von Immigranten aus besagten Ländern, selbst wenn sie nicht in diesen aufgewachsen sind, auch in nur mittelmässigen Schulsystemen weiterhin derartig gute Ergebnisse erzielen.

Dr. John Jerrim, Autor der Studie, kommt zu dem Ergebnis, dass «die Einstellungen und Überzeugungen, die Eltern aus ostasiatischen Ländern Ihren Kindern anerziehen, einen entscheidenden Beitrag zu Ihren erstklassigen schulischen Leistungen leisten.»

Was wären im Zuge der immer multikultureller werdenden Büros folglich die Auswirkungen des Arbeitens mit Kollegen aus aller Welt, deren Lernansatz sich möglicherweise radikal von unserem unterscheidet? Studien zeigen, dass kulturell vielfältige Teams einen Geschäftsvorteil mit sich bringen.

Ein Bericht von McKinsey aus dem Jahr 2015(7) zu 366 börsennotierten Unternehmen zeigt, dass Unternehmen, die hinsichtlich ethnischer Vielfalt im obersten Quartil platziert sind, eine 35 % höhere Wahrscheinlichkeit besitzen, finanzielle Renditen über dem branchenüblichen Mittelwert zu erhalten.

Mit andersdenkenden Menschen zusammenzuarbeiten, könnte für unsere Gewohnheiten eine Herausforderung sein, die uns alte Denkweisen durchbrechen lässt und uns zu einer Steigerung unserer persönlichen Leistung verhilft. In einer im Journal of Personality and Social Psychology veröffentlichten Studie wurden Schein-Jurys eingesetzt. Forscher fanden heraus, dass ethnisch vielfältige Teams eher in der Lage waren, sich auf Fakten zu konzentrieren(8).

In einer anderen, in der Economic Geography veröffentlichten Studie kamen die Autoren zu dem Ergebnis, dass Unternehmen, deren Vorstand aus einem kulturell vielfältigen Team besteht, innovativer sind und diese eher neue Produkte entwickeln als Unternehmen mit einer homogenen Führungsetage.

Dr. Chamorro-Premuzic glaubt, dass die Fähigkeit, Verständnis für das Verhalten von Kollegen mit einem anderen kulturellen und geographischen Hintergrund zu haben, eine Eigenschaft ist, wonach in der heutigen globalen Arbeitswelt vermehrt gesucht wird. «Der Hauptvorteil ist, dass man eher in der Lage ist, mit einer viel grösseren Anzahl an Menschen zu interagieren», sagt Premuzic. «Wenn man jemanden auf eine diplomatische Mission oder eine Mission zur Geschäftsentwicklung schickt, will man, dass diese Person nicht nur eine andere Sprache spricht, sondern auch versteht, welche Werte und Normen Menschen in einem anderen Land haben.»

«Dies ist eine grundlegende Art des Lernens und wird von den Personen verlangt, die die gefragte, kognitive Elite der Wissensarbeiter ausmachen, die nicht nur die Möglichkeit haben, an anderen Orten zu leben, sondern dies auch selbst wollen.»

Fantasievoller Ansatz

Natürlich ist es schwer, über Lernen zu sprechen, ohne dabei das Gedächtnis zu berücksichtigen. Die Loci-Methode ist nur eine Art, durch die Otto Normalverbraucher ihr Gehirn austricksen können, um ihre Konzentration zu verbessern und letztlich produktiver in ihren Jobs zu sein. Laut Bradley Love, Professor für Kognitions- und Entscheidungswissenschaft im Fachbereich Experimentelle Psychologie am UCL, hat die gleichmässige Aufteilung von Lerninhalten einen positiven Einfluss auf die Speicherung von Informationen.

Es ist eine Methode, die zunächst kontraintuitiv erscheint, besonders für diejenigen unter uns, die daran gewöhnt sind, eine Nachtschicht einzulegen, wenn sie für Klausuren büffeln oder Präsentationen vorbereiten müssen. Love behauptet, dass, obwohl dies vielleicht effektiv erscheint, um Informationen kurzfristig abzurufen, es unwahrscheinlich ist, dass diese uns dabei hilft, Wissen wirklich zu beherrschen und es Monate oder Jahre später wieder abzurufen.

Der Kontext spielt eine ebenso wichtige Rolle(10). Wenn Sie beispielsweise eine Präsentation vorbereiten, sollten Sie versuchen, ein Umfeld zu schaffen, das demjenigen ähnlich ist, an dem Sie sich am Tag der Präsentation befinden werden. «Es mag vielleicht komisch klingen, aber wann immer ich auf einer Konferenz eine grosse Rede halte, suche ich, selbst wenn ich zuvor keinen Zugang zum Raum, in dem ich die Präsentation halten werde, habe, einen ähnlichen Raum auf und gehe in diesem umher, bleibe am Rednerpult stehen und stelle mir meine Rede vor, stelle mir den Beginn der Rede vor», erklärt Love. «Es ist eine realistischere Übung und ich kann mich später eher an meine Worte erinnern, da ich mich in dem tatsächlichen Umfeld befinde, in dem ich meine Rede halten werde.»

Ablenkungszeiten

Ablenkung ist ein wesentliches Hindernis für moderne Lerner, fügt Love hinzu und behauptet, dass viele Menschen den Preis, den diese auf ihre Produktivität hat, unterschätzen. «Die kleinen Ablenkungen scheinen nicht von grosser Bedeutung zu sein, aber wenn Sie diese einmal zusammenrechnen, haben Sie 25 % Ihres Tages, 10 Minuten oder jeweils 30 Sekunden Ihrer Zeit verloren», gibt Love zu Bedenken. «Jeder denkt, er sei gut darin, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erledigen, aber im Grunde ist das gar nicht möglich. Was Menschen gut erscheint, ist nicht immer gut für ihre Leistung. Seien Sie sich also darüber im Klaren, was für Sie persönlich am besten funktioniert.»

In einem im Harvard Business Review veröffentlichten Artikel(11) empfehlen Experten eine dreistufige Methode, die Menschen dabei helfen soll, ihre Konzentration zu verbessern. Paul Hammerness, Assistenzprofessor für Psychiatrie an der Harvard Medical School, und Margaret Moore, Gründerin und CEO der Wellcoaches Corporation, behaupten, die Methode würde dabei helfen, das abgelenkte Gehirn zu bremsen. Die Methode beinhaltet folgende Schritte: Zunächst sollte man sich der eigenen Optionen bewusstwerden. Daraufhin folgen ein tiefes Ein- und Ausatmen und die Betrachtung der einzelnen Optionen und schliesslich die gut durchdachte Entscheidung für eine Option.

Schlaf(12) und Achtsamkeitsmeditation(13) haben sich ebenfalls als leistungssteigernd herausgestellt, da diese die Konzentration verbessern und die Gedächtnisleistung steigern. Welche Methode Sie auch immer wählen. Die Intention dahinter ist für den Erfolg entscheidend. Folgen Sie also Ihrer Leidenschaft, denn, laut Dr. Chamorro-Premuzic «lernen Menschen am am besten, wenn ihre Aufgaben, Rollen oder Jobs mit ihren eigenen Werte und Interessen übereinstimmen. Diese zwei Dinge klingen vielleicht äusserst intuitiv und offensichtlich, aber sie sind die Hauptgründe dafür, weshalb Menschen nichts Neues mehr lernen – sie wissen nicht, worin sie gut sind und sie arbeiten im falschen Umfeld.»


 

Matthew Jenkin ist freier Journalist aus Grossbritannien und ehemaliger Redakteur von Guardian Careers, dem Online-Portal rund ums Thema Arbeit der britischen Tageszeitung The Guardian.

Quellen:

(1) http://dx.doi.org/10.1016/j.neuron.2017.02.003

(2) https://www.theguardian.com/education/2017/mar/12/no-evidence-to-back-idea-of-learning-styles

(3) http://time.com/3858309/attention-spans-goldfish/

(4) http://www.businessinsider.com/this-one-trait-will-help-you-get-hired-by-google-2016-7?IR=T

(5) https://www.huffingtonpost.com/debbie-hampton/the-10-fundamentals-of-re_b_9625926.html

(6) https://www.theguardian.com/world/2014/oct/09/east-asian-school-success-culture-curriculum-teaching

(7) https://www.mckinsey.com/business-functions/organization/our-insights/why-diversity-matters

(8) https://hbr.org/2016/11/why-diverse-teams-are-smarter

(9) https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1111/ecge.12016

(10) http://gocognitive.net/interviews/effect-context-memory

(11) https://hbr.org/2012/01/train-your-brain-to-focus

(12) https://www.theguardian.com/science/2016/aug/23/sleep-resets-brain-connections-crucial-for-memory-and-learning-study-reveals

(13) https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs12671-014-0285-3